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Erklärung der Arbeiterwohlfahrt für eine solidarische Flüchtlingspolitik!

10.02.2012 Vor genau sechs Jahrzehnten entstand unter dem Eindruck der furchtbaren Auswirkungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs die Genfer Flüchtlingskonvention.
Sie hat trotz der langen Zeit nicht an Bedeutung verloren; ihre Wirksamkeit hängt nach wie vor in hohem Maße davon ab, dass Staat und Zivilgesellschaft
sich zu Toleranz und Offenheit bekennen und den Flüchtlingsschutz stärken.

Dazu gehört auch die derzeit so aktuelle Bekämpfung von Ausgrenzung und Rassismus.
Darunter haben insbesondere die Flüchtlinge immer wieder zu leiden. Die Arbeiterwohlfahrt
appelliert an die deutsche Regierung, sich im Zuge der europäischen Entwicklungen
für den Schutz und die Rechte der Flüchtlinge einzusetzen, die nach Europa
kommen wollen.
Die Arbeiterwohlfahrt bekennt sich zu ihren Grundwerten der Toleranz und Solidarität
und veröffentlicht aus aktuellem Anlass die folgende Erklärung:
Das Mittelmeer ist zu einem Massengrab geworden. Allein im Jahre 2011 sind nach
offiziellen Angaben mehr als 3000 Menschen ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer
dürfte beträchtlich höher liegen. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Offensichtlich
haben wir Mechanismen entwickelt, um diese grausame Wirklichkeit, die
sich tagtäglich abspielt, effizient auszublenden und sie nicht ins Bewusstsein gelangen
zu lassen. Europa setzt eine eigene Grenzschutzagentur namens Frontex ein,
die mit einem Etat von jährlich gut 90 Millionen Euro dafür Sorge trägt, dass die meisten
Flüchtlinge nicht an das Ziel ihrer Hoffnungen gelangen. Offiziell dient Frontex
dem Schutz vor illegaler Einwanderung.
Tatsächlich „schützt“ Frontex Europa vor den Schutzsuchenden!
Ziel ist es, keine oder zumindest so wenig Flüchtlinge wie möglich in Europa ankommen
zu lassen. Europa leistet sich damit bewusst und politisch gewollt eine Flüchtlingsabwehrinstanz;
eine programmatische und koordinierte Flüchtlingshilfe fehlt hingegen
gänzlich.
Dabei ist ein jeder Flüchtling zunächst einmal jemand, der per se in Not ist. Aber diese
Not wird nicht gern gesehen. Stattdessen wird aus der Not der Flüchtlinge ein
Problem für Europa konstruiert. Nicht die Flüchtlinge sind in Not und bedürfen der
Hilfe; Europa ist in Not vor dem vermeintlichen Ansturm der Menschen, die sich aus
Angst vor Verfolgung, Bürgerkrieg und Naturkatastrophen ebenso auf den Weg ins
ersehnte Europa machen wie aus Armut und Hunger.
Flüchtlinge suchen Schutz in Europa und in Deutschland. Sie wandern gegen ein
Reichtumsgefälle, das ganz wesentlich in den tradierten Ausbeutungsverhältnissen
zwischen Europa und Afrika begründet liegt. Sie entfliehen Ländern, in denen insbesondere
demokratische Werte wie Rechtssicherheit, eine korruptionsfreie Bürokratie
und entwicklungsfähige wirtschaftliche Rahmenbedingungen (noch) nicht gegeben
sind oder erst aufgebaut werden. Der Entschluss zur Migration ist immer auch ein
individueller Entschluss und wird letztlich nicht durch Gesetze und Abschreckungsmaßnahmen
verhindert.

Millionen Menschen sind seit Jahren auf der Flucht. Sie kommen aus unterschiedlichen
Ländern und sind vor Bürgerkrieg und Verfolgung geflüchtet. Vielen drohen
Armut und Hunger – sie kämpfen ums nackte Überleben. Die allermeisten von ihnen
bleiben in der Region, aus der sie geflohen sind, und versuchen ihr Glück in einem
Nachbarstaat. Nur ein sehr kleiner Teil von ihnen – nach Schätzungen des Flüchtlingswerks
der Vereinten Nationen (UNHCR) handelt es sich dabei um weniger als
10% aller weltweit Flüchtenden - bricht nach Europa auf und nur die allerwenigsten
erreichen auch tatsächlich die Küsten Europas. Im Jahr 2009 hat Europa gerade mal
330 000 Asylsuchende aufgenommen. Bei einer Gesamtbevölkerung von mehr als
500 Millionen Menschen macht diese Zahl gerade einmal 0,066 Prozent der EUGesamtbevölkerung
aus. Allein in dem Flüchtlingslager von Dadaab in Kenia leben
derzeit etwa 400 000 Flüchtlinge.
Der UNHCR-Jahresbericht „Global Trends 2010“ macht deutlich, dass sich 2010
weltweit 43,7 Millionen Menschen auf der Flucht befanden und die internationale Unterstützung
dieser Menschen sehr ungleich geleistet wird, denn vier von fünf dieser
Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern. Die größten Flüchtlingsbevölkerungen der
Welt lebten im letzten Jahr in Pakistan (1,9 Mio.), Iran (1,1) und Syrien (1,0). Wie alle
politischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse bewirken auch die Revolutionen
in Nordafrika neue Flucht- und Migrationsbewegungen. Die meisten Flüchtlinge
kommen über Tunesien und Libyen. Vielfach handelt es sich dabei um Menschen
aus anderen afrikanischen Staaten wie Somalia und Eritrea, die ihre Länder wegen
Krieg und Hungersnot verlassen haben. Bislang vom Gaddafi-Regime in Libyen unter
unmenschlichen Bedingungen in Lagern und Gefängnissen festgehalten und an der
Ausreise nach Europa gehindert, vertrauen sie jetzt in ihre neu gewonnene Freiheit
und machen sich auf den Weg in die europäischen Demokratien.
Die EU muss insbesondere den nordafrikanischen Ländern Entwicklungsperspektiven
bieten. Die von der EU-Kommission ins Auge gefassten erleichterten Handelsbeziehungen,
Visaerleichterungen im Rahmen von Mobilitätspartnerschaften, ein
Studentenaustauschprogramm und geplante Regelungen für legale Arbeitsmigration
weisen in die richtige Richtung. Notwendig aber wäre eine Art „Marshall-Plan“ für
Nordafrika. Einen nicht unwesentlichen Beitrag kann Deutschland leisten, indem
Deutschland den Migranten und Flüchtlingen die Chance ermöglicht, eine eigene
Zukunftsperspektive zu entwickeln. Dies ist jedoch nur bei echter Teilhabe möglich
und bedeutet, ihnen weitestgehend gleiche Rechte und ein selbstbestimmtes Leben
in Deutschland zuzugestehen. Zwar wurde von allen Seiten der Sturz der diktatorischen
Regime in Nordafrika begrüßt und bejubelt – in Libyen hat Europa sogar als
Kriegspartei unmittelbar am Sturz der Diktatur mitgewirkt – eine Lösung für die sich
daraus ergebenden Flüchtlingsbewegungen scheint man aber nicht anbieten zu wollen.
Stattdessen setzt Europa auf die altbewährte Abwehr- und Abschreckungsstrategie
und verhandelt bereits in seinen ersten Gesprächen mit den neuen Machthabern
in Libyen die Frage nach neuen Rückführungsabkommen. Gerade wurden der
IOM (International Organisation for Migration) von der EU 9,9 Millionen Euro bewilligt,
um in den nächsten drei Jahren in Libyen, Ägypten und in Tunesien tätig zu werden.
Neben dem Aufbau von nachhaltigen Lösungen für die Rückkehrer und der Unterstützung
der besonders von Rückkehrern betroffenen Städte und Gemeinden soll
das Geld auch verwendet werden, um „Migrationsströme zu managen“. Insbesondere
wird die Unterstützung von Regierungen bei der Verhinderung von irregulärer Migration
angestrebt.

Die verhaltenen Reaktionen der europäischen Union zur Übernahme von Flüchtlingen
aus den in Aufruhr befindlichen Demokratiebewegungen in einigen arabischen
Ländern und Nordafrika offenbaren, dass eine Schieflage in der „Bewertung“ und
Zuerkennung von grundlegenden Rechten 60 Jahre nach der Verabschiedung der
Genfer Flüchtlingskonvention besteht. Dies zeigt, dass die gemeinsam aufgestellten
Regeln innerhalb der EU nicht ausreichen, um den Flüchtlingsschutz nach internationalen
Standards zu gewährleisten. Alle europäischen Staaten sind deshalb aufgerufen,
diese Regeln im Sinne der Menschenrechte zu erweitern und Aufnahmekontingente
zuzulassen, wie es bereits sehr erfolgreich während des Krieges im ehemaligen
Jugoslawien und bei den vietnamesischen Bootsflüchtlingen gelungen ist . Hier
hat die deutsche Regierung seinerzeit eine Vorreiterrolle eingenommen und sogar
zehntausende Flüchtlinge ohne europäische Absprache kurzfristig aufgenommen.
Die Erfahrung mit den jugoslawischen Flüchtlingen hat eindeutig gezeigt, dass ein
Großteil so bald als möglich in ihr Heimatland zurückgekehrt ist und dass sehr viele –
auch deutsche Menschen und Firmen - noch heute von ihrem Aufenthalt in Deutschland
profitieren. Der endlich erfolgte Beschluss der Bundesregierung vom Dezember
2011, sich zur Aufnahme von Resettlement-Flüchtlingen zu verpflichten, ist ein großer
Fortschritt und ein erster Schritt hin zu einem solidarischen europäischen Asylsystem.
Aus Europa, dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, wie das Selbstverständnis
Europas gern lautet, wird zunehmend die Festung Europa, die man vor
den Armen und Unfreien dieser Welt beschützen muss.
Wie lange will und kann sich Europa eine solch abschottende Politik leisten? Glaubwürdigkeit
kann hier nur durch eine konsistente - die Menschenrechte wahrende -
Gesamtstrategie erreicht werden. Hier gilt es, in der Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit
wie in der Innenpolitik durch die Beachtung der Menschenrechte als
oberste Maxime, ein Zeichen zu setzen. Die Flüchtlinge werden sich von all den unmenschlichen
Maßnahmen nicht abschrecken lassen und ihr Leben dabei weiter aufs
Spiel setzen, um ihrer Notlage zu entfliehen. Für die allermeisten von ihnen existiert
schlicht keine andere Wahl, und selbst, wenn sie von den Gefahren wüssten, würden
sich von der Abwehr- und Abschreckungsstrategie nur die wenigsten Flüchtlinge abhalten
lassen, den unsicheren und riskanten Weg nach Europa zu wählen. Die Europäische
Union kann dabei weiterhin den Tod als Teil einer Abschreckungsstrategie
billigend in Kauf nehmen, oder aber endlich handeln und Migrations- und Flüchtlingspolitik
unter Wahrung menschenrechtlicher Mindeststandards aktiv gestalten.
Die Menschen, die es bis nach Deutschland geschafft haben, brauchen eine Situation,
die ihnen dieses Recht auf eine individuelle Entwicklung zugesteht. Am Umgang
mit Schutzsuchenden zeigt sich, welcher Wert Menschenrechten über bloße Lippenbekenntnisse
hinaus zugebilligt wird. Europäer und insbesondere Deutsche sollten
mit Freude zur Kenntnis nehmen und stolz darauf sein, an einem Ort zu leben, der
für die meisten Menschen der Erde als das Paradies erscheint. Es ist noch nicht so
lange her, da fanden 800 000 Deutsche, die vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
fliehen mussten, in anderen Ländern Asyl.
Die deutsche Gesellschaft verfügt über ausreichend Kapazitäten und Ressourcen,
um diesen Menschen, die es bis hierher geschafft haben, diese Möglichkeiten zu bieten.
Wir verfügen in der Praxis über eine funktionierende Demokratie, eine solide Infrastruktur,
entsprechend zuverlässige Administration, Rechtsstaatlichkeit und Prosperität.
Selbst wenn Migranten und Flüchtlinge nach temporären Aufenthalten oder
abgelehnten Asylverfahren in ihre Herkunftsländer zurückgehen, können sie viele
Kenntnisse und Erfahrungen im Heimatland einsetzen und dort zu einer Demokratisierung
beitragen.
Menschenrechte zu vertreten bedeutet auch, den hier lebenden Menschen ihre
Rechte auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entfaltung nicht vorzuenthalten. Für
eine Flüchtlingspolitik, die die Menschenrechte achtet, bedeutet dies freien Zugang
zu Bildung, Ausbildung, Arbeit und zur Gesundheitsversorgung. Die Aufhebung gesetzlicher,
diskriminierender Einschränkungen wie der Residenzpflicht, der Versorgung
durch Sachleistungen und dem Zwang zum Wohnen in Sammelunterkünften ist
dringend geboten. Die Ausgrenzung fördert das Entstehen von Ängsten, Vorurteilen
und Rassismus bei der ansässigen Bevölkerung. Durch die teure Unterbringung in
Sammelunterkünften und die gesetzlich erzwungene Untätigkeit werden Gelder verschwendet,
die besser zum Nutzen der Flüchtlinge eingesetzt wären. Statt einzelne
Menschen und ihre Familien systematisch durch das deutsche Asylsystem zu deprimieren
und zu zerstören, wäre es sinnvoller, die Ausbildung, Förderung und Aktivierung
von Flüchtlingen zu ermöglichen und zu gestalten. Sinnvoller nicht nur für die
Flüchtlinge selbst, sondern auch für die deutsche Aufnahmegesellschaft und für die
Demokratisierungsprozesse in den Herkunftsländern.
Die Realisierung und Verteidigung der Menschenrechte ist der Arbeiterwohlfahrt aufgrund
ihrer Geschichte und Erinnerung ein wesentliches Anliegen. Zwischen Menschenrechten
und den Grundwerten der AWO Toleranz, Freiheit und Gerechtigkeit
besteht ein unauflösliches Band.
Die AWO fordert daher seit vielen Jahren bereits dazu auf, den Flüchtlingen, die in
Deutschland leben, ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben mit gleichberechtigtem
Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt zu ermöglichen und
diskriminierende Maßnahmen wie Sachleistungsprinzip, Residenzpflicht oder die
Verpflichtung zum Wohnen in Sammelunterkünften endlich abzuschaffen.
Basierend auf den Werten der AWO und verbunden mit den praktischen Kenntnissen
der Lebensumstände von Flüchtlingen in Deutschland leisten wir durch eine klare
und fundierte Informationspolitik unseren Beitrag zu einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit
und tragen zu einer Versachlichung der Diskussion bei. Die AWOEinrichtungen
als Schnittstellen zwischen Individuum und gesellschaftlichen Institutionen
haben hier als Interessensvertretung der Schutzsuchenden eine hohe Verantwortung
und sind gehalten, den immer wieder zu beobachtenden Menschenrechtsverletzungen
im Bereich der Asylpolitik engagiert entgegen zu treten.
Die Arbeiterwohlfahrt fordert in diesem Zusammenhang eine solidarische nationale
wie europäische Flüchtlingspolitik.
Dazu gehört:
• Die aktive Verantwortungsübernahme der deutschen Regierung für die Schaffung
eines fairen europäischen Asylsystems.
• Die Beachtung der Menschenrechte als oberster Maxime in der deutschen
und europäischen Außenpolitik.
• Ein Ende der diskriminierenden Gesetze und Maßnahmen wie z.B. das Asylbewerberleistungsgesetz,
das geltende Sachleistungsprinzip und die Residenzpflicht.
• Die Abschaffung der Verpflichtung zum jahrelangen Wohnen in Sammelunterkünften.
• Einen gleichberechtigten Zugang für Flüchtlinge zu Bildung, Ausbildung und
Arbeitsmarkt.
• Deutschland muss Flüchtlingen ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglichen
und ihnen das Recht zubilligen, ihr zukünftiges Leben aktiv und realistisch
zu gestalten.

Präsidium und Vorstand der Arbeiterwohlfahrt
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V.
Berlin, den 3. Februar 2012